Andere vor den Kopf stoßen – ein Horrorszenario. Ein klares Nein aussprechen? Braucht so viel Mut wie ein Bungee-Sprung. Hier gibt es ein paar Tipps für all jene, die es immer jedem recht machen wollen.
Der fremde Sitznachbar im Zug erzählt Ihnen detailreich von seinen Problemen. Sie nicken, obwohl Sie lieber mit Musik im Ohr dösen würden. Im Job-Meeting herrscht Stille, als es um die Frage geht, wer das Protokoll übernimmt. Sie melden sich.Vielleicht gehören auch Sie zu den Menschen, denen immer ein „Ja“ auf der Zunge liegt, wenn man Sie um etwas bittet. Oder die von sich aus einspringen. Besonders nett, rücksichtsvoll, aufmerksam, immer für andere da, aufopferungsvoll – vielleicht beschreibt man Ihre Persönlichkeit mit diesen Worten.
Gute Eigenschaften – würde man aus dem Bauch heraus sagen. Doch sie sind nicht unbedingt gut für Ihre psychische Gesundheit. Zumindest dann nicht, wenn der Antrieb dahinter ist, es immer allen anderen recht zu machen. Für dieses Verhaltensmuster gibt es auch einen Namen: People Pleasing, übersetzt: „Menschen gefallen“.
Die eigenen Bedürfnisse fallen hinten über
„Wenn ich immer den Wünschen der anderen nachgebe, richte ich mich nicht nach dem Kompass meiner eigenen Bedürfnisse“, erklärt der Karriereberater und Autor Martin Wehrle. Das Problem: Wir haben nicht unendlich viel Zeit und Energie. Wenn die Chefin um Überstunden bittet oder der Nachbar um Hilfe beim Streichen der Wände, „dann geht das von meinem Zeit- und meinem Energiekonto ab“, sagt Martin Wehrle.
Dabei ist es für die psychische Gesundheit elementar, dass das Energiekonto nicht ständig im Minus ist. Denn dann ignorieren wir unsere Bedürfnisse, wichtige Signale von Körper und Seele. Vernachlässigen wir sie, steigt das Risiko für psychische Erkrankungen.
Selbstlose und verantwortungsbewusste Menschen sind daher häufiger von einem Burn-Out betroffen. Das beobachtet auch Andreas Hagemann, Psychotherapeut und Ärztlicher Direktor der Haku-Privatkliniken Eschweiler und Merbeck.
Wem geht es besser, wem schlechter?
Das heißt aber nicht, dass Nettsein per se uns auf Dauer schadet. Laut Martin Wehrle gibt es das Konzept der gesunden Nettigkeit, das der italienische Soziologe und Ökonom Vilfredo Pareto (1848-1923) formuliert hat. Gesunde Nettigkeit heißt: Es geht mindestens einem Beteiligten besser und keinem schlechter.
„Wenn ich jemandem einen Gefallen tue und mir geht es mit diesem Gefallen gut, dann gibt es kein Problem“, fasst Wehrle zusammen. „Aber: Wenn es mir danach schlecht geht, weil ich über meine Grenzen gegangen bin, weil ich müde bin – dann geht die Rechnung nicht auf.“
Allen gefallen, niemanden verärgern – „People Pleasern“ ist das so wichtig, weil sie annehmen, nur so gemocht zu werden. Martin Wehrle verweist allerdings auf Studienergebnisse aus den USA, wonach nette und freundliche Menschen oft eher die unbeliebteren sind.
Ein Grund: Die weniger Netten fühlen sich durch die Netten unter Druck gesetzt. „Stellen Sie sich vor, Sie stehen im Supermarkt in der Kassenschlange und hinter Ihnen lässt jemand einen anderen vor“, sagt Wehrle. „Dann fühlen Sie sich vielleicht unter Druck, dasselbe auch zu tun.“ Außerdem werde netten Menschen eher unterstellt, dass sie eine heimliche Agenda hätten – also ihre Nettigkeit einsetzen, etwa um im Beruf voranzukommen.
Apropos Beruf: Andreas Hagemann beobachtet, dass Ja-Sager auf der Arbeit besonders gern belastet werden. „Wenn ich etwas erledigt haben möchte, gehe ich zuerst zu der Person, von der ich erwarte, dass sie mir die Aufgabe abnimmt. Hierdurch nimmt natürlich auch der Erwartungsdruck zu, sodass es zu einer sich selbst verstärkenden Abwärtsspirale kommt.“
Heißt: Ein Nein wird umso schwieriger, je öfter man Ja gesagt hat. Laut Hagemann können Betroffene so in eine Opferrolle geraten: Ihre Nettigkeit kann von ihrem Umfeld ausgenutzt werden.
Woher die Nettigkeit kommt
Der Psychotherapeut beobachtet außerdem: „Nicht selten liegen die Wurzeln für ein überzogenes Harmoniebedürfnis bereits in Kindheit und Erziehung.“ Wir haben etwa die Erfahrung gemacht, dass wir belohnt werden, wenn wir den Erwartungen anderer Menschen – zum Beispiel denen unserer Eltern – entsprechen. Daraus kann ein Hang zum Perfektionismus entstehen.
Und: „Nettsein hat eine evolutionäre Komponente“, sagt Wehrle. „Früher war es wichtig, in der Horde bleiben zu dürfen, sonst wären wir verhungert und umgekommen.“ Um nicht aus der Gruppe verstoßen zu werden, war es elementar, andere nicht zu verärgern.
So fällt die Abgrenzung leichter
Die gute Nachricht: Die Zeiten haben sich geändert. Das heißt aber nicht, dass der Weg aus dem People Pleasing leichtfällt. Das Zauberwort lautet: Abgrenzung. Man sollte die eigenen Bedürfnisse im Blick haben und mit einem „Nein“ die Bremse ziehen, wenn unsere Grenzen überschritten werden. Das muss man üben, immer wieder. Dazu zählt auch, die Ansprüche und Erwartungen an sich selbst herunterzuschrauben. Wer daran scheitert, für den kann eine Psychotherapie eine Option sein, so Hagemann. Ob es die Überstunde ist, die Umzugshilfe für den Freund, die Einladung zu einer Party: „Nehmen Sie sich grundsätzlich eine Bedenkzeit“, rät Martin Wehrle. So lässt sich vermeiden, dass man reflexartig zusagt – und erst danach spürt, dass einem die Entscheidung Bauchgrummeln bereitet.
In der Bedenkzeit sollte man prüfen, ob man etwas wirklich tun möchte. Sagt das Bauchgefühl „Nein“, sollte man das offen ansprechen. Martin Wehrle nennt einen Gedanken, der dabei helfen kann: „Ein ehrliches Nein ist besser als ein geheucheltes Ja. Denn im Grund genommen ist es anderen gegenüber ganz schön unverschämt, einen Willen vorzuspielen, wo keiner ist.“ Manchmal kann es auch helfen, Zettel mit „Ja“ und „Nein“ zu beschriften, sie auf dem Boden auszulegen und zu überlegen: Was zieht mich mehr an? „Die meisten Menschen spüren sofort, welcher Pol die stärkere Zugkraft hat“, sagt Wehrle, der diese Methode auch in Beratungen anwendet. Und was, wenn Gegenwind kommt? Dann gilt: nicht einknicken, sondern aushalten. Und im besten Fall die Erfahrung machen, dass man sich mit seinem Nein durchsetzen kann. Dann lockt nämlich eine Belohnung: „Selbstwirksamkeit, also das Gefühl, dass ich die Dinge beeinflussen kann und nicht nur ein Spielball anderer bin“, sagt Martin Wehrle.
Ricarda Dieckmann/dpa
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